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Mein längster Tag
Teil 4
Ich erreiche Sur En. Es ist stockduster aber die Temperaturen hier unten im Tal sind endlich wieder angenehm.
In dem von Achim empfohlenen Landgasthaus Val D'Uina, bestelle ich mir das größte Natursteak mit allem Zipp und Zapp und gönne mir eine großzügige Pause. Super nett! Ich darf mein Bike mit ins Restaurant nehmen.
Bis das Steak zubereitet ist, nutze ich die Gelegenheit und drücke mir auf dem WC neue Kontaktlinsen rein, fülle Wasser auf und bereite mich so schon einmal langsam auf die bevorstehende Nacht durch die Schlucht vor.
Ich checke meine Blessuren, die da wären: Durchfall, rechter Unterarm etwas taub, die äusseren Finger von beiden Händen ebenfalls, ein verschwommenes Bild wie ein Blick durch ein Milchglas, ein leichter Tinnitus der mich bereits seit dem Fimbatal begleitet und ein Zustand den ich nicht als ausgeruht und vor Kraft strotzend bezeichnen könnte.
Gestärkt und mit frischen Klamotten mache ich mich um 22:30 Uhr auf den Weg zur Galerie. Die Wirtin beziffert die Stunden, auf meine Frage der zeitlichen Länge des Aufstiegs bis zur Sesvenna Hütte, für einen guten Wanderer auf 4 - bei Tageslicht. Also gehe ich, bei meiner momentanen Verfassung, davon aus, das ich im Dunklen 5 bis 6 Stunden unterwegs sein werde.
Ja, ich bin fertig. Und so schiebe ich fast alles, bis ich endlich um exakt 1:00 Uhr am Einstieg zur Galerie ankomme. Das ist gut so, ist doch jetzt wenigstens die Geisterstunde verstrichen.
Ab hier Mountainbiker tragen oder stossen.
Die Galerie zieht sich wiederum ewig in die Länge und es umgibt mich eine sehr unwirkliche Stimmung.
Rechts, weit unter mir, das Getöse des wilden Baches, der durch die Schlucht tobt und mit seiner Akustik die sonst lautlose Nacht beherscht. Links, über und unter mir, nur nackter Fels.
Ein vom Alpenverein in den Jahren 1908 bis 1910 in den Fels gesprengter schmaler Pfad, der teilweise kaum einen Meter breit ist, zieht sich durch die senkrecht abfallende Felswand.
Da es teilweise kein Geländer zum Festhalten gibt, ist jetzt absolute Trittsicherheit gefragt. Ein Abstürzen führt unweigerlich zum Tod.
Glaubt mir, jede noch so attraktive Geisterbahn verliert bei einer Durchwanderung der Galerie bei Nacht ihren Schrecken. Ein neues von mir noch nie durchlebtes Gefühl. Nein, es ist keine Angst. Dafür ist einfach kein Platz. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, ja alles richtig zu machen. Es ist mehr so etwas, das ich mich selbst in Frage stelle. Was ich hier eigentlich mache, ob es das ist was ich wollte und ich verspüre, dass diese ewige Suche nach meiner persönlichen Grenze noch in dieser Nacht ihr Ende finden wird.
Kontrollierte Schritte sind gefragt. Ich lasse mir überaus lange Zeit, das Bike in steilen Stufenabschnitten sorgfälltig zu schultern. Ein langsames, vom Gefühl her kontrolliertes Fortbewegen stellt sich ein. Die Zeit spielt in meinem Zustand keine Rolle mehr. Ich glaube, ich habe es nicht mehr in der Hand, weiss nicht, ob ich es bis oben hin schaffen werde. Ich kann nur noch versuchen alles richtig zu machen.
Ich muss das erste Mal bei einer Tour kleine Pausen einlegen. Ich habe so etwas immer nur bei anderen beobachtet. Jetzt weiss ich, wie sie sich fühlen müssen. Der Körper zwingt mich zu stoppen, mich hinzusetzen und kurz zu verweilen. Ich habe nicht gedacht, dass mir so etwas widerfahren könnte. Die Grenze, ja die Grenze ist absolut erreicht und ich befinde mich immer noch weit unterhalb der Hütte.
Das in der Felswand eingebrachte Drahtseil, schenkt Halt und ein kleines Gefühl der Sicherheit. Die Stirnlampe von Silver leistet gute Dienste.
Einer der beiden Tunnel:
Um Viertel vor Zwei mache ich an einer sehr gefährlichen Stelle eine traurige Entdeckung: Ein Teelicht unter einem umgedrehten Einmachglas macht deutlich, wie schnell man hier oben sein Leben verlieren kann. Leider habe ich kein Feuer bei mir und so kann ich die Kerze leider nicht zum Scheinen bringen.
Mit diesem Bild vor Augen, mache ich mich weiter auf die nächsten beschwerlichen Meter. Ich denke noch eine ganze Zeit darüber nach und jetzt wird mir auch klar, warum sich ein umgedrehtes Glas über der Kerze befand. Wohl nicht in erster Linie um die Flamme vom Wind zu schützen. Nein, an dieser ausgesetzten Stelle geht man nicht mal eben so mal hin um seine Trauer mit einer neuen Kerze zu bekunden. Das Glas hat wohl eher den Zweck, die Flamme nach einer Weile durch Sauerstoffmangel zu ersticken. So kann diese durch andere Leute wieder zum Scheinen gebracht und lange verwendet werden.
Die Schlucht, mit ihrem teilweise wasserfallähnlichen Bach, lasse ich hinter mir und es verschwindet so allmälich das permanente Getöse.
Um 2:16 Uhr erreiche ich endlich den Schlinigpass, der mich mit seinem alten Drehkreuz
auf 2.240 m Höhe in Italien Willkommen heisst.
Es wird ruhig, sehr ruhig. Ich bemerke erst jetzt, was für eine sternenklare Nacht ich habe. Sie scheinen zum Greifen nahe.
Ich weiss von meiner Streckenbesichtigung, wie es hier oben aussieht. Es ist immer noch sehr zerklüftet. Manche Stellen kann man fahren, andere verlangen widerum das Tragen. Ich aber habe schon lange keine Kraft mehr noch aufs Bike zu steigen, geschweige denn in die Klickpedale einzurasten. Ich weiss auch, dass es noch ein langer beschwerlicher Weg ist bis zur Hütte und wenn man nur einen kleinen Lichtkeil von einer Stirnlampe zur Verfügung hat, kann man diese Weite auch nicht so richtig einorden und man hat nicht wirklich das Gefühl weiter zu kommen. Das GPS zeigt mir aber zuverlässig an, dass ich Höhenmeter für Höhenmeter gut mache.
Ich mache viele Stopps, setze mich stehend auf mein Oberrohr um einen Augenblick zu verweilen. Das Seven ist mir eine Stütze und ich habe das Gefühl, einen wirklich zuverlässigen Partner an meiner Seite zu haben. Es nützt aber alles nichts - ich muss weiter, ich muss den letzten Rest noch schaffen. Ich werde hier oben so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben.
Ich höre die Glocken von den hier oben weidenden Kühen. Kurz darauf erscheinen in der Dukelheit Augenpaare die im Scheinwerferlicht sehr gespenstig aussehen. Ich finde es auf einmal toll, dass die Viecher alle so ein Glöckchen tragen. Kann ich so die Augen doch wunderbar zuordnen.
Ein mulmiges Gefühl ist es nur, wenn die Fleischbrocken mitten auf dem Weg liegen. Ich rede mit ruhiger Stimme auf diese sanften Lebewesen ein und umgehe sie möglichst. Ein Bulle zwingt mich meinen Weg zu verlassen und ich schlag mir dabei den linken Fuss um.
Es geht immer weiter nach drei Kuhherden, 1.200 Höhenmetern und nur noch 10 Minuten vor der Hütte kommt es dann noch zu einer unheimlichen Begegnung:
Zwei Augen, hell wie kleine LED-Taschenlampen, kommen ca. 100 Meter vor mir um eine Gesteinsecke. Das ist keine Kuh, dass wusste ich sofort. Erst langsam, dann schnell schleichend nimmt das Ding im Zick-Zack-Kurs Speed auf und kommt unaufhaltsam und zielstrebig auf mich zugeschossen.
Es klimmt dabei die Felsen rauf und runter als würde es fliegen. Ich fühle instinktiv Gefahr auf mich zukommen und überlege blitzschnell was zu tun ist. Ich darf dieses unheimliche Augenpaar auf keinen Fall aus dem Scheinwerferlicht verlieren.
Das Schweizer Messer ist irgendwo hinten im Rucksack. Keine Zeit es zu holen.
Ich hebe das Rad an und drehe das Vorderrad um die Supernova zu zünden. Das aber interessiert das Vieh nicht die Bohne. Es sind vielleicht noch 40 Meter. Ich habe im Moment keine Zeit für Angst, doch hätte ich sie gehabt, ich glaube mir wäre der Durchfall an den Beinen runter gelaufen.
Ich hole blitzschnell meine Digi aus der Fotobrusttasche und meine Hoffnung ist, dass ich es durch Blitzlicht verscheuchen kann.
Für das zuletzt geschossene Bild am Drehkreuz, hatte ich das Blitzlicht allerdings ausgeschaltet - der erste Versuch missglückt. Mit eiliger Ruhe schalte ich es im Menü wieder an.
Ich brülle so laut ich kann das Vieh an und schiesse einen Blitz ab. - Es bleibt kurz stehen, scheint zu überlegen, nimmt dann aber wieder Kurs auf mich.
Ich brülle, blitze und renne mit letzter Kraft auf das Ding zu. Es ist jezt nur noch einen Katzensprung entfernt. Gott sei dank bläst es den Angriff ab und schiesst nach links den Bergkamm hinauf.
Ich sehe die funkelnden Augen und wie sie mich von dort oben weiter beobachten. Mit der Angst im Nacken stosse ich mit der linken Hand am Vorbau das Bike bergan, brülle und blitze eine Salve nach der anderen aus der kleinen Digi in die Nacht.
Nach drei endlos scheinenden Kehren erscheint im Stirnlampenlicht wie aus dem Nichts ein Geisterhaus.
ENDLICH die Ruine der alten Pforzheimer Hütte.
GESCHAFFT!!!
Hier unten auf dem Bild 5 Uhr, die Augen von dem Etwas. (Grössere Auflösung links in der Bildergalerie) Ich habe sie, eher zufällig, bei den ersten Blitzmanöver mit aufgenommen.
Jetzt weiss ich, hinter der nächste Ecke habe ich die Sesvenna-Hütte erreicht. Ein beleuchtetes, kleines Dachfenster wirkt für mich wie eine Einladung in eine sichere Welt.
Nach 21,5 Stunden und 6.200 Höhenmeter habe ich es geschafft.
Um 3:09 Uhr greife ich nach dem Hüttengatter und war noch
nie so froh, eine von Menschen bewirtete Hütte zu erreichen.
Die untere Tür ist glücklicherweise auf und ich kann rein.
Ich ziehe mir meine Schlappen an und schleiche mich nach oben in den zweiten Stock.
Ich denke mir, was für ein Traum es wäre den winzigen Duschraum offen vorzufinden. Normalerweise muss man sich hierfür einen Schlüssel beim Hüttenwirt holen. - Und? Ich habe Glück, die Dusche ist auf und es hat sogar jemand sein Shampoo vergessen. Ich werde diesen schönen Duft nie mehr vergessen. Auf der Flasche stand L-Oreal Hairrepair und ich dachte mir, dass ist genau das was ich jetzt brauche. Das ein oder andere Härchen ist, auf dieser langen Reise, bestimmt in Mitleidenschaft geraten.
Ein Traum, es gibt sogar warmes Wasser. Ich Dusche leise und wärme mich auf.
Nach der Dusche beschliesse ich, im Bettenlager nachzusehen, ob noch etwas frei ist und ja, rechts und links zwar Schnarcher aber eine weiche Decke und ein Kopfkissen laden mich ein 1,5 Stunden zu schlafen.
Beim Entfernen der Kontaktlinsen mache ich eine sonderbare Entdeckung: nach Entnahme der ersten, bemerke ich doch tatsächlich, dass sich noch ein weiteres Paar im Auge befindet. Jetzt wird mir klar, warum ich alles so trübe wahrgenommen habe. Ich habe die Augen im Gasthof Val D'Uina zwar mit neuen Linsen versorgt - aber die alten nicht heraus genommen. Nichts mehr gepeilt, so fertig war ich schon in Sur En und dann mit diesem Nebelschleier vor Augen durch die Schlucht Ohnmacht.
Beim Frühstück erzähle ich dem Hüttenwirt von meiner sonderbaren Begegnung und er meinte, dass es sich um einen Luchs gehandelt haben könnte. Diese kommen wohl zur Zeit vermehrt in die Alpen zurück. Diese Raubkatzen werden bis zu 35 Kilo schwer, stellen aber eigentlich keine Gefahr für Menschen da weil sie wohl nur nachts jagen. Ah, ja. Puh, Glück gehabt. Gegen so ein Vieh hätte ich in meinem Zustand mit nackten Händen wohl nicht mehr allzuviel ausrichten können und im nächsten Bikemagazin hätte so etwas stehen können wie: Hahn wurde vom Luchs verspeisst!
Nach dem Frühstück fahre ich runter nach Glurns, trinke traditionell meinen Cappucchino auf dem altem Marktplatz um anschliessend über den Reschenpass auf wunderschönen Fahrradwegen durch das Vinschgau nach Österreich zum Bahnhof Landeck zu fahren. Von hier aus gibt es passable Zugverbindungen die man in Glurns vergeblich sucht.
Als Mountainbiker war diese Tour die größte und emotional intensivte meiner bisweilen zahlreichen Herausforderungen.
Wissentlich die eigene Grenze erfahren zu haben, bin ich einfach nur glücklich und dankbar dieses großartige Schauspiel mit all seinen beschriebenen Eindrücken, die sich da zwischen Himmel und Erde abspielten, erlebt zu haben.
mipmip